Flagging - die etwas andere Workaway-Erfahrung
Eine unerwartete Geldquelle
Als ich mich nach Kanada aufgemacht habe, habe ich mich zwar ganz bewusst auf ein Arbeitsvisum beworben (da man mit einem Touristenvisum offiziell nicht länger als einen Monat an einem Ort verweilen darf), aber nicht erwartet, unterwegs auch Geld zu verdienen.
Umso erfreuter und überraschter war ich dementsprechend, als Leah mir anbot, an einem Flagging-Seminar teilzunehmen, auf dem ich eine Flagging-Lizenz machen durfte. Denn Leah hat, neben der Ranch, auch ein kleines Unternehmen, das hier im Tal bei Unfällen, Straßenarbeiten und Fahrzeug-Rettungen den Highway für die Personen um die Arbeitsstelle herum sichert - und sie dachte sich, dass mir so ein absurder Beruf sicher Spaß machen würde, womit sie völlig Recht hat. Und diese Arbeit wird eben auch bezahlt.
Flagging - Ein Kanadischer Notfallberuf
Aber was ist dieses merkwürdige “Flagging” überhaupt?
Ein Flagger, was eigentlich eher der umgangssprachliche Name für Traffic Control Person (“Verkehrskontrollperson”) ist, ist eine Person, die mit Signalkleidung und einem STOP/SLOW Schild ausgestattet den Verkehr reguliert.
In Kanada werden bei Baustellen und Unfällen keine oder nur wenig Straßenverkehrszeichen verwendet, sondern eben Personen, um den Verkehr um die Stelle herum zu dirigieren. Ein Flagger ist quasi das, was zwischen dem herannahenden Verkehr und der Arbeitszone steht.
Je nachdem, um was es sich bei der Arbeitszone handelt (Baustelle, Unfall, Fahrzeugrettung) und wie viel Platz die Zone einnimmt (nur einen oder zwei Fahrstreifen oder alle) haben wir Flagger unterschiedlich viel zu tun. Aber wir sind immer bereit, auf Geheiß der Arbeiter in der Zone den Verkehr komplett zu stoppen oder massiv zu verlangsamen. Kommunikation dazu erfolgt größtenteils via Radio, über das wir auch mit den Truckern, die ihre Güter über den Highway transportieren, sprechen können.
Da Flagger, besonders bei schlechten Straßen- und Wetterverhältnissen, im Winter vor allem zu Unfällen und Fahrzeugrettungen gerufen werden, zählen Flagger in Kanada zu den Notfallberufen, neben offensichtlicheren Berufen wie Feuerwehr, Notarzt und Polizei. Leahs Firma, die “Robson Valley Traffic Control”, ist rund um die Uhr zu jedem Wochentag erreichbar und bereit, sich innerhalb kürzester Zeit auf den Weg zu machen.
Und wie das oft so bei Notfallberufen ist, ist es kein Beruf, um den sich die Leute reißen - unvorhersehbare Stunden, unberechenbare Verhältnisse und unkalkulierbare Straßenverkehrsteilnehmer, die einem das Leben schwer machen gehören hier zur Tagesordnung. Man muss eine Berufung für diesen Job fühlen, um Flaggen als Beruf zu genießen, und sowohl Leah als auch ich fühlen diese Berufung.
Das konstante Risiko, das Flagger umgibt, sowie die Unvorhersehbarkeit werden jedoch entsprechend entlohnt, und es gibt Tage, da kommt man nach Hause und weiß, man hat innerhalb der letzten 24 Stunden fast 500 Dollar verdient.
Zu jeder Zeit, in jedem Wetter
Ich flagge jetzt seit Anfang Oktober, und habe schon einige spannende Flagging-Tage erleben dürfen. Notrufe um drei Uhr Morgens, ein 21-Stunden-Arbeitstag (ja, am Stück), Flaggen bei Regen, starkem Schneefall und kaltem Wind, ein für fast acht Stunden komplett blockierter Highway.
Oft sind es Trucker, die nach frischem Schneefall unglücklicherweise etwas zu schnell unterwegs sind und aus einer Kurve schlittern, oder sogar einfach umkippen und so die Straße blockieren, aber auch Schneeplüge müssen regelmäßig aus dem Graben gezogen werden, teilweise, weil der Schneematsch auf der Straße stärker ist als sie (Fahrrinnen im Schneematsch können wirklich brutal sein) oder weil jemand sie von hinten, vorne oder der Seite versehentlich rammt.
Da wir nach einem Notruf in der Regel mehrere Stunden auf der Straße verbringen, ohne die Chance, uns zwischendurch aufwärmen zu können, ist warme Kleidung und Ausrüstung ein Muss - ich habe mittlerweile Arbeitsstiefel, die bis -60°C die Füße warmhalten sollen, dazu extrawarme Socken (bis -30°), mehrere Paar Handschuhe, Skimützen (die auch den Nacken warm halten und nur einen Schlitz für die Augen lassen) und gefütterte Sicherheitskleidung, die einen Wintersportler neidisch machen würde. Und natürlich die kleinen chemischen Hand- und Fußwärmer, wenn es mal richtig kalt wird.
Bei langen Wartezeiten verbringe ich meine Zeit auf dem Highway trotzdem damit, lustig herumzutanzen, um meine Muskeln in Bewegung und damit warm zu halten.
Dass das außerdem die wartenden Fahrer unterhält ist nur ein weiterer angenehmer Nebeneffekt.
Arbeitsplatz: der Highway
Eines der Dinge, die ich am Flaggen am Meisten genieße, ist der “Arbeitsplatz”. Denn wir arbeiten auf dem Highway in den Rocky Mountains, und eigentlich nie zweimal an der exakt selben Stelle. Es gibt einige “Pappenheimer”, an denen regelmäßig ein Transporter im Graben landet, aber das ist auch schon alles.
Die Aussicht, besonders bei gutem Wetter, ist einfach nicht zu übertreffen. Weiß glitzernde Berge, endlose Wälder und der weite Himmel, und auch Wildtiersichtungen sind nichts Ungewöhnliches - ich fühle mich die Hälfte der Zeit (quasi immer, wenn ich nicht versuche, ein Fahrzeug anzuhalten), als wäre ich in einem National Geographic Film gelandet.
Und schließlich ist Flaggen auch eine unerwartete Möglichkeit für mich, die Gegend mit den Augen eines Ortsansässigen kennenzulernen - wenn ich jetzt jemanden davon reden höre, wie die Straßenbedingungen beim Goat sind, oder dass es hinter dem Forget-Me-Not-Corner anfängt, zu schneien, bin ich nicht mehr unsicher, wovon die Leute reden, sondern kann zufrieden in mich hineinlächeln und habe das Bild der besagten Stelle direkt vor Augen.
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